Die Sünden des weißen Mannes

Die Indianer der Gegenwart (um 1980) haben weitgehend die resignierende Haltung, die noch in der Generation ihrer Eltern verbreitet war, überwunden. Sie sind zu Protestaktionen übergegangen.

Zuvor aber hat eine kleine Gruppe junger indianischer Intellektueller mit den Hilfsmitteln der analysierenden Sozialwissenschaften des weißen Mannes die Geschichte und die gegenwärtige Situation ihres Volkes neu durchdacht. Sie hat dabei eine Liste der Sünden des weißen Mannes zusammengestellt und aufgezeigt, dass sich die angeblich überlegene westliche Kultur bei der Unterwerfung und Vernichtung der Indianer, die schließlich doch nicht gelungen ist, noch viel raffinierterer Mittel bedient hat als der des Mordes, des Landraubs und der Vernichtung der traditonellen Existenzgrundlagen der indianischen Völker.

Welcher Art die Vernichtungspolitik im einzelnen war, soll nachfolgend dargestellt werden:

Die drei Hauptströme der Besiedlung
Drei Hauptströme fallen bei der Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents ins Auge:

  1. Die »Anglo-Amerikaner« drangen gewaltsam aus dem Osten vor. Sie bevorzugten das Siedlungssystem.
  2. Die friedlicheren Franzosen zogen von Norden kommend den Mississippi entlang und trieben mit der Urbevölkerung Handel.
  3. Die Spanier missionierten im Süden und im Westen. Sie waren zwar frei von rassistischen Motiven, überboten sich aber gegenseitig an Grausamkeit.

Die Anglo-Protestanten begannen schon kurz nach ihrer Landung mit der gnadenlosen Ausrottung. Dabei half ihnen seltsamerweise gerade ihre religiöse Überzeugung darüber hinweg, bei der Abschlachtung der Indianer Skrupel zu empfinden. Sie konnten sich auf das Bibelwort berufen: »Gehet hin, und lehret alle Völker, und machet euch die Erde Untertan.« Völker, die nicht bekehrt werden wollten, hatten mussten demnach vernichtet werden.
Zudem hatten die Puritaner, die den Kern der angelsächsischen Kolonisten bildeten, Erfolg auf Erden. Ein Beweis dafür, daß die Gnade Gottes auf ihnen ruhte.

Es war eine beliebte Praktik der bei der Ausbreitung ihres Kolonialbesitzes in der Neuen Welt konkurrierenden europäischen Staaten, indianische Völker als Bundesgenossen anzuwerben und sie für die eigenen Interessen in den Krieg zu schicken. Dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Siedlern, die ihnen das Land wegnahmen, auch von den Indianern Grausamkeiten begangen wurden, wird niemand bestreiten. Doch wird man hier, wenn man zu einer gerechten Beurteilung gelangen will, bis zum Anfang zurückgehen müssen. Dabei stößt man auf die Tatsache, dass die meisten Kolonisten ihren ersten Winter in der Neuen Welt ohne das gastfreundliche Verhalten der Stämme in ihrer Nachbarschaft kaum überlebt hätten. Der Lohn war trotzdem die Vernichtung, vollzogen manchmal sogar mit so teuflischen Mitteln wie dem der gezielten Verbreitung von Pockenepidemien.

Bakterienkrieg 1752
Die erbittertsten Gegner der Engländer waren jetzt die Ottawa und Odschibwä, die den größten Teil der Großen Seen besetzt hielten.
Viele Geschichtsschreiber versichern, dass die Briten zur Kriegführung zu Bakterien griffen, um diese feindlichen Stämme zu vernichten, denn an die 2000 Ottawa und Angehörige benachbarter Stämme fielen den Blattern zum Opfer.
Der Bakterienkrieg war kein ganz neuer Einfall. 1752 hatte der General Jeffrey Amherst seinen Untergebenen die Verwendung der Pocken empfohlen. »Sie taten gut daran«, schrieb seine Excellenz, »die Indianer mit Laken zu infizieren, auf denen Blatternkranke lagen, oder sich aller sonstigen Mittel zu bedienen, die dazu beitragen können, diese verfluchte Rasse auszurotten. Ich wäre sehr glücklich, sollte sich Ihr Plan, sie mit Hunden zu hetzen, als ausführbar erweisen.«
Nach »Ruf des Donnervogels«, herausgegeben von Charles Hamilton
General Jeffrey Amherst

Die Vernichtung durch Krieg
Die Kriege, die zunächst von Engländern, Franzosen und Spaniern, später von der demokratischen Staatsmacht der USA gegen die Indianer geführt wurden, zogen sich bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts hin. Sie kosteten nicht nur auf seiten der Indianer Tausenden von Menschen das Leben, sie kosteten auch die Aggressoren viele Menschenopfer und Geld. In den Kriegen gegen die Seminolen verloren die USA 1500 Soldaten und wendeten 50 Millionen Dollar auf. Die Seminolen sagen heute stolz, daß sie nie besiegt worden seien.
Erst als die »beste Reiterei der Welt«, die der Prärieindianer-Stämme, vor allem der Dakota und Cheyenne, endlich besiegt war, konnte der militärische Widerstand der Indianer endgültig als gebrochen gelten. Allerdings musste in den Sioux-Kriegen, deren Ähnlichkeit mit dem Vietnamkrieg ihnen in unserer Zeit zu einer erneuten traurigen Berühmtheit verhalf, die US-Kavallerie 1876 am Little Big Horn River noch eine Niederlage hinnehmen, von der später geradezu Symbolwert ausging.
Damals hatte der ruhmsüchtige George Armstrong Custer, der sich von einem Sieg eine Verbesserung seiner Chancen bei der Präsidentschaftswohl versprach, mit seiner ganzen Einheit, der 7. US-Cavallerie, das Leben lassen müssen.
Junge Indianer unserer Tage prägten in Anspielung auf dieses Ereignis den Slogan: „Custer starb für Eure Sünden.“
Armstrong Custer hatte sich schon vorher als Indianerschlächter hervorgetan. Gerechterweise muss erwähnt werden, dass sich zuweilen gegen ein solches Verhalten (Massaker am Sand Creek 1864, Überfall auf ein Lager am Washita-Fluss 1868 durch Pberst J.M. Chivington und George Armstrong Custer) kritisierende Stimmen erhoben.
Das Aufsehen, das durch »Übergriffe« der Armee im Indianerland entstand, ließ es ratsam erscheinen, mit den bis dahin noch überlebenden Indianerstämmen Verträge zu schließen, die allerdings zumeist mehr formale Bedeutung hatten. Sie wurden von den Weißen immer dann gebrochen, wenn ihnen bei ihrem »Marsch des Fortschritts«, bei der Landnahme und der Ausbeutung der Bodenschätze des Kontinents die Indianer im Wege waren.

Kriegsverbrechen
Vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats erscheint Leutnant Cramer von den Mexico-Volunteers und macht über die Vernichtungsschlacht gegen die Cheyenne am Sand Creek folgende Aussage: »… die Frauen und Kinder drängten sich zusammen, und unser Feuer konzentrierte sich auf sie … Niemand von ihnen fiel in unsere Hände, und alle Toten wurden von unseren Männern skalpiert. Ich weiß von mehreren Fällen, in denen … nein, nein, meine Herren, ich kann nicht.« »Sprechen Sie weiter, Leutnant. Sie haben hier die Wahrheit zu bezeugen und nichts als die Wahrheit.« »… ich weiß von mehreren Fällen, in denen unsere Männer von den Leichen der Frauen die Schamteile herausschnitten und an ihrem Sattelzeug befestigten oder sie am Hut trugen, als sie wieder in Abteilung ritten.«
(Auszug aus einem Untersuchungsbericht des amerikanischen Senats über das Massaker am Sand Creek).

Vertragsirrtum
Hier ein paar Meilensteine auf der »Straße des weißen Mannes«:
1656:
Die gesetzgebende Versammlung von Virginia legt fest, dass alle Ländereien im Besitz von Indianern, die ihnen durch einen Akt der Gesetzgebung reserviert wurden, nicht veräußerlich seien.
1778:
Der revolutionäre 2. Continental Congress bestätigt den Delawaren in Fort Pitt ihre Landrechte (damit sie kein Bündnis mit den Engländern eingehen sollten)
1789:
Den Sechs Nationen (Irokesen) wird für immer ein großes Gebiet zugestanden. Zwei Jahre später führt General St. Clair, der den Vertrag mit unterzeichnet hatte, eine militärische Expedition in dieses Gebiet und errichtet bei Miami Village einen Militärposten. Im Vertrag aber steht geschrieben: Die Irokesen dürfen jeden Eindringling bestrafen.
1794:
Der sogenannte Jay-Vertrag der USA mit Kanada und der Pickering-Vertrag sollen den Indianern den ungehinderten Grenzverkehr garantieren.
1830:
Der »Indian Removal Act« wird rechtskräftig, ein Gesetz zur »Umsiedlung« der Indianer »hinter den Mississippi«.
1832:
Die Cherokee gewinnen einen Prozess gegen den Staat Georgia und werden trotzdem vertrieben. 4000 kommen auf dem »Marsch der Tränen« nach Oklahoma um. (1907 wird Oklahoma der 46. Staat der Union. Die Indianer werden in die ödesten Steppengebiete des Landes gejagt.)
1840 (19. März):
Ein beabsichtigter Vertrag kommt nicht zustande, weil texanische »Parlamentäre« über den Zustand einer von den Komanchen zurückgegebenen Gefangenen in Zorn geraten. Die Elite der Penateka-Komanchen, 13 Kriegshäuptlinge, 20 Frauen und Kinder werden im Gerichtssaal und auf dem Gelände des Gerichtsgebäudes von San Antonio erschossen, weitere 32 Frauen und Kinder in den Kerker geworfen.
1867:
Die Regierung verspricht den Komanchen und Kiowa, daß Weiße keine Büffel mehr jagen dürfen.
1868: Der Vertrag von Fort Laramie garantiert den Dakota alles Land westlich des Missouri-Flusses: »Es ist keiner weißen Person gestattet, sich in irgendeinem Teil des Territoriums anzusiedeln oder niederzulassen oder dasselbe ohne Einwilligung der Indianer zu passieren.« (Um diesen Vertrag ging es auch 1973 in Wounded Knee).
1868:
Das neue Reservat, das den Comanchen und ihren Verbündeten zugewiesen wird, hatte die Regierung früher den Choktaw- und Chickasaw-Stämmen überschrieben, doch 1866 wieder »zurückgenommen«.

Sehr viele dieser Verträge wurden unter Bedingungen geschlossen, bei denen nach streng juristischen Gesichtspunkten der westlichen Welt die indianische Partei einem Vertragsirrtum unterlag. In Unkenntnis der sozialen Verhältnisse in den indianischen Stämmen waren die Vertragspartner der Weißen nicht selten indianische Kriegshäuptinge, die gar nicht berechtigt waren, im Namen eines ganzen Stammes oder Volkes Landbesitz zu veräußern. Einige indianische Häuptlinge wiesen die Weißen auf diesen Umstand ausdrücklich hin.
Grundsätzlich muss darauf hingewiesen werden, dass alle Indianerstämme, unbesehen sonstiger Unterschiede, Grund und Boden als unveräußerlichen Gemeinbesitz betrachteten.
Erde ist Schöpfung, dem Menschen überantwortet von einem höheren Wesen, um darauf zu leben, aber auch mit dem Auftrag, dafür Sorge zu tragen, daß die Erde nicht geplündert und räuberisch ausgebeutet werde. Bei dieser, wenn man so will, noch »unentfremdeten« Einstellung war ein Verkauf oder eine Übereignung von Grund und Boden gegen Geld oder ein Tausch gegen andere Güter ausgeschlossen.
Wer sich als Indianer darauf einließ, entfernte sich entweder von einem Grundsatz indianischer Lebensauffassung, oder er mußte durch Täuschung von den Weißen zu einem solchen Handel verleitet worden sein.

Von daher erklärt sich, dass heute die politisch bewussten Indianer in einer »Einhaltung« der früher geschlossenen Verträge höchstens eine Minimalforderung sehen. Zumeist verlangen sie statt dessen eine »Neuverhandlung« oder eine Revision, bei der ihre ungeschriebene Rechtsauffassung berücksichtigt wird.

Jimmie Durham vom AIM (American Indian Movement) erklärte in unseren Tagen in diesem Zusammenhang: „Realität ist das, was entschlossene Menschen daraus machen. Für uns gibt es keine Chance, in einem fremden System zu überleben. Nur unser System funktioniert für uns, und kein anderes, und wir haben ein Recht auf unser System. Jeder hat das Recht, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben. Wir bestehen auf diesem Recht bis zum Ende. Wir werden nicht aufhören zu kämpfen, bis wir unsere eigene Realität gewonnen haben.“

Nach der militärischen Unterwerfung der letzten Indianerstämme und der Niederwerfung solcher Befreiungsbewegungen, wie sie die Geistertänzer einleiteten, die um 1890 in den Reservationen die resignierende Bevölkerung wachzurütteln versuchten, ging man dann mit den raffinierten Mitteln eines „Kulturkampfes“ dazu über, die Restbestände der indianischen Völker ihres eigenständigen Bewusstseins zu berauben.

Diese Politik der kulturellen Umerziehung wurde nicht selten unter dem Banner wahrer Menschenfreundlichkeit verfolgt. Die amerikanische Regierung konnte gegenüber der Elendssituation der Indianer, die in Agenturen und Reservationen eingesperrt waren und denen der Staat gemäß den zuvor geschlossenen Verträgen auch häufig Unterstützungsgelder zahlen musste, schwerlich die Augen verschließen. Also schien es eine humane Lösung, sie mit Hilfe der christlichen Kirchen oder durch die Erziehung der Kinder in weißen Schulen zum »American Way of Life« zu bekehren.

Umerziehung durch Religion
Heute lässt sich sagen, daß die Missionsversuche der verschiedenen christlichen Kirchen bei den Indianerstämmen insgesamt nicht allzu erfolgreich verliefen.
Die christliche Religion spricht von entfernten Ländern und Orten, die dem Indianer nicht bekannt sind. Die indianischen Mythen hingegen haben Bezug auf die Landschaft, in der der rote Mann lebt. Die Geschichten der Navahos zum Beispiel erzählen von den vier Heiligen Gebirgen, von denen wenigstens eins von jedem Punkt des Navaho-Landes aus sichtbar ist.
Der männliche Christengott war für die Indianer ebenso schwer zu akzeptieren, wie die in der Bibel geschilderten Gesellschaftszustände, die ausschließlich von männlicher Autorität bestimmt wurden. Bei den Irokesen verwaltete eine bestimmte Frauengruppe die Häuptlingswürde. In den Mythen der Navahos steht die »Frau der Verwandlungen« für ein wichtiges kosmisches Prinzip. Entsprechend ist die Rolle der Frau in dieser heute größten Stammesgruppe der USA.
Völlig unbegreiflich für einen Indianer ist ein Gott, der als nur gut und Gutes tuend dargestellt wird. Oft ergab sich die Ablehnung aus dem Beharren der christlichen Missionare auf Dingen, die den Indianern einfach unwichtig erschienen.
Eine Indianerin, die eine weiße Missionsschule besucht hatte, berichtete: „Dieser Missionar kam heute und drängte meinen Mann, doch endlich einen Trauschein zu kaufen. Aber mein Mann hatte einfach den Dollar nicht dazu. Auf meinen Bruder hat der Missionar schon ein ganzes Jahr wegen dieses Trauscheins eingeredet. Ein anderer Missionar versuchte es zwei Jahre lang, bis er aufgab. Die Frau meines Bruders sagte zu ihm: „Wir sind doch verheiratet. Wir brauchen dieses Papier nicht. Sag ihm, du verstehst das nicht, du musst erst deine Frau fragen. Dann wird er dich schon in Ruhe lassen.“
Bestimmte protestantische Schulen unternahmen unverhüllte Angriffe auf die Kultur der Indianer. Sie verboten ihren indianischen Schülern unter Androhung strenger Strafen, an den Zeremonien ihres Stammes teilzunehmen und trieben sie so in einen schweren Gewissenskonflikt, denn nun wussten die indianischen Kindern nicht mehr, wem sie gehorchen sollten, ihren eigenen Eltern oder ihren Lehrern, den Missionaren.

Indianische Kritiker an den Praktiken christlicher Missionare weisen darauf hin, dass zwischen 1860 und 1880 die einzelnen Reservationen für die verschiedenen Konfessionen, die teilweise untereinander zerstritten waren, zur Bekehrung freigegeben wurden. Indem die eine Reservation von den Katholiken, die zweite von den Lutheranern und die dritte von den Presbyterianern missioniert wurde, übertrugen sich die Glaubensstreitigkeiten auf die Indianer, bei denen Streitgespräche über religiöse Anschauungen und Unterschiede bis dahin völlig unbekannt waren. Darüber hinaus erkannten zum Christentum bekehrte Indianer sehr rasch die doppelte Moral vieler weißer Glaubensbrüder, die sich im Alltag so ganz anders benahmen, als es in der Sonntagspredigt verkündet wurde.
Deloria, ein Sioux aus der Standing-Rock-Reservation, der selbst in einer sich zum Christentum bekennenden Familie aufwuchs und somit die Gewissenskonflikte aus eigener bitterer Erfahrung kennt, erklärt, dass die Missionare dort, wo es ihnen gelang, einzelne Indianer zu bekehren, damit häufig die guten zwischenmenschlichen Beziehungen im Stammesverband störten oder zerstörten.
Aus heutiger Sicht urteilt der Jesuitenpater John F. Bride, Leiter der Holy Rosary Mission School: „Wir haben auf die indianische Mentalität nicht den geringsten Eindruck machen können. Der Misserfolg der Erziehungsmaßnahmen ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass Indianer nicht durch ein System von Belohnung und Strafe zu lenken sind. Im Unterschied zu den Schwarzen erstreben die Indianer nicht, den Status der weißen Mittelklasse zu erreichen, sie wollen ihr Indianertum behalten.“

Gehirnwäsche durch weiße Schulen
Bis zum Anfang unseres Jahrhunderts war es in den Reservationen des Südwestens durchaus möglich, dass man mit Zwang indianische Kinder ihren Eltern fortnahm, um sie in einer von der Reservation weit entfernten Schulen zu »guten Weißen« zu erziehen.
Bekannt geworden sind Fälle von Navahokindern, die über tausende von Meilen hin in die Südstaaten der USA verschickt wurden. In den Schulen der Weißen wurden sie teilweise durch Prügelstrafe dazu angehalten nur englisch zu sprechen. Kinder durch Prügel zu strafen, ist eine in der indianischen Erziehung undenkbare Praktik.
Kamen die Kinder in den Ferien zu ihren Eltern zurück, so wagten sie auch dort nicht mehr, sich ihrer Muttersprache zu bedienen. Es hat indianische Kinder gegeben, die sich von Georgia bis nach Arizona zu Fuß zu ihren Familien durchschlugen und sich so den pädagogischen Wohltaten des weißen Mannes entzogen. Ein ergreifendes Dokument stellen in diesem Zusammenhang die Aufzeichnungen des Sonnenvogts von Old Oraibi (Hopi-Reservation), Don Chuka Talayesva, dar. (Sonnenvogt = Amt bei den Zeremonien des Stammes. Von der Funktion her ist dies ein Priesteramt, vom Prestige her wäre der Sonnenvogt ein Häuptling. Kurzum: Jemand, der ein bestimmtes Ritual vollzieht und deswegen auch in weltlichen Fragen Ansehen und Einfluss genießt.)

Ein indianischer Bildungsroman
Nachfolgend können Sie eine Geschichte lesen, an der klar wird, wie unzweckmäßig und unwirksam weiße Erziehungsversuche an Indianerkindern häufig gewesen sind. Darüber hinaus zeigt die Geschichte auch den Abgrund, der sich zwischen der indianischen und weißen Kultur und dem Bewusstsein von Indianern und Weißen auftut. Zu Überbrücken ist dieser Abgrund gewiss nicht mit Nötigung und Gewalt, sondern nur mit großen Anstrengungen gegenseitigen Verständnisses, die Kenntnis und Achtung vor den unterschiedlichen Auffassungen vom Sinn des Lebens voraussetzen.
Dies nicht begriffen zu haben, macht wohl die tiefste und schwerste Sünde der Weißen in der Vergangenheit aus.

Chuka
Er wurde geboren 1890 in Sand Klan. Sein Name Chuka bedeutet eine Mischung von Sand und Ton. Furcht vor den Weißen und vor den Regierungstruppen hatten die Hopi immer wieder. Negersoldaten kamen und brachten die Kinder mit Gewalt in die Internatsschule der Regierung bei Keam’s Canyon oder zu der Schule am Fuße der Mesa.
Unter diesen Kindern befand sich auch Chukas Schwester. Ihr Haar wurde ihr abgeschnitten, ihre indianischen Kleider wurden verbrannt, und sie erhielt den Namen Nellie. Nach einigen Wochen entkam sie.
Einige Jahre später wurde sie wieder eingefangen und in die Schule zurückgebracht. Diesmal gaben sie ihr den Namen Gladys. Chukas Bruder wurde mehrere Jahre von den Eltern versteckt gehalten. Dann fing man auch ihn, schnitt ihm die Haare, verbrannte seine Kleider und nannte ihn Ira.
Mit neun Jahren trat Chuka in die Schule der Weißen ein. Um seine Kleider zu retten, wickelte er sich in eine Navaho-Decke und kam barfuß von der Mesa herunter. Die Decke wurde ihm weggenommen, seine Haare wurden ihm abgeschnitten. Er erhielt ein Hemd und einen Overall und bekam den Namen Max. Im ersten Jahr in der Schule lernte er ganze sieben Worte auf Englisch: bright boy, smart boy, yes, no, nail und candy. Nach den Ferien daheim brachten ihn die Eltern trotz seines Widerwillens in die Schule zurück, weil sie zu arm waren ihn zu kleiden und zu ernähren.
Die Mutter erhielt als Belohnung 15 Yard Kleiderstoff und der Vater eine Hacke. Der kleine Max bekam nichts außer wieder einmal einen neuen Namen. Er hieß jetzt Don. Im Winter wurden er und andere Indianerjungen dabei erwischt, als sie sich mit Mädchen aus ihrem Stamm trafen. Sie erhielten je nach Alter 15 bis 30 Schläge mit der Rawhide (einem Lasso aus gewickeltem Rohleder).
Am Heldengedenktag gab man den indianischen Schülern Fähnchen und Blumen. Sie marschierten zu den Gräbern von zwei weißen Soldaten, die bei einem Überfall auf die Hopi getötet worden waren. In diesem Jahr lernte Don, dass die Weißen »mit dem Kopf denken statt mit dem Herzen«. 1907 wurde Don mit 50 anderen Kindern in die Indianerschule nach River Side in Kalifornien geschickt. Hier blieb er drei Jahre.
Im Winter lernte er Tomaten essen, die Staaten der Union hersagen, Choräle zu singen und Anfeuerungsrufe bei Fußballspielen zu brüllen. Die Hopi-Sprache kennt keine Fluchworte. Fluchen lernte Don auf Englisch. Als er sich weigerte, in einer Diskussion vor 600 Schülern in der Aula zu reden, wurde er geschlagen: 15 Hiebe mit der Rawhide. Im Frühjahr und im Sommer wurden die Jungen zur Melonenernte ins Imperial Valley geschickt. Don brachte es zu einem guten Messer, einem Koffer und einer Fünf-Dollar-Uhr. Er fühlte sich halb als Christ, halb als Heide und wünschte sich, irgendeinen Zauber zu kennen um seine Haut in die eines weißen Mannes zu verwandeln. Er bekam eine Lungenentzündung und lag einen Monat in der Abteilung des Krankenhauses für unheilbare Fälle.
Eines Nachts spät fühlte er, wie ihm kalt wurde. Der Schauder des Todes kroch seine Beine herauf. Plötzlich sah er am Fußende seines Bettes eine große Kachina stehen, eine Verkörperung der himmlischen Wesen … im Tanzgewand und mit einer kleinen Feder in ihrer linken Hand. Die Erscheinung sagte zu ihm: »Ich höre, du willst sterben. Ich bin dein Schutzgeist. Ich habe dich dein bisheriges Leben lang beschützt. Du bist noch viel zu jung, um zu sterben. Ich werde jetzt hier bleiben und über deine Körperhülle wachen, aber zugleich werde ich dich auf der Reise beschützen, die du nun antreten wirst.«
Don fühlte sich wie eine Feder hochgehoben. Ein Windstoß wehte ihn über die Landschaft. Plötzlich sah er unter sich eine flache Mesa (Tafelberg). Dort war das Wasserloch am Abhang des Höhenzugs, auf dem Oraibi, sein Heimatdorf in Arizona, lag. Er trat in das Haus seiner Eltern ein. Seine Mutter kämmte dem Vater das Haar, sie sahen ihn nicht… Getröstet ging Don wieder hinaus. Aber wohin? In ein Reich von Mythen und Legenden, in eine Dimension der Zeit, in der sich alles vereinigt fand, was lebte. Da waren die Two Hearts, der Berg Beautiful, das Haus des Todes, der Grand Canyon, all jene Orte, in denen die Kachina, die Wesen der Dinge, wohnten.
Wieder sah er seinen Schutzgeist vor sich, der sprach: »Du hast deine Lektion gelernt, du wirst jetzt noch lange leben. Kehr jetzt zurück ins Krankenhaus, in dein Bett. Du wirst dort eine häßliche Person liegen sehen, aber habe keine Furcht. Leg deine Hände um den Hals und wärme dich, aber beeile dich, sonst legen sie dich noch in einen Sarg und verschließen den Deckel.«
Don gehorchte. Bald wurde es ihm warm. Er erkannte Krankenschwestern, die sein Bett umstanden. Die eine hielt sein Handgelenk. »Der Puls kommt wieder«, sagte sie. Und die Oberschwester sagte: »Kleiner, du warst in der letzten Nacht schon hinüber, aber du warst noch nicht ganz kalt wie ein Toter, deshalb haben wir dich noch nicht in einen Sarg gelegt. Sie werden uns loben, weil wir dir das Leben gerettet haben.«
Am nächsten Tag erschien der Schutzgeist wieder. Er sagte zu Chuka: »Eines Tages wirst du eine bedeutende Persönlichkeit werden. Aber wenn du mir nicht gehorchst, werde ich dich bestrafen müssen. Vier Heimsuchungen – dann lass‘ ich dich sterben. Ich halte dich ganz leicht zwischen zwei Fingern, und wenn du nicht auf deine innere Stimme hörst, lasse ich dich fallen.«
Die Kachina machte einen Schritt zur Seite und war verschwunden. Don sah eine weiche Adlerfeder vom Fußboden aufwirbeln und durch die offene Tür davonwehen.